Polyzythämie (primäre Polyglobulie, Polycythaemia vera)
Polyzythämie (primäre Polyglobulie, Polycythaemia vera) ist eine bösartige Erkrankung des roten Knochenmarks. Durch unkontrollierte Vermehrung von Erythrozyten (Blutkörperchen) aus Stammzellen kommt es zu einer Überzahl an roten und weißen Blutkörperchen sowie an Blutplättchen. Die Erkrankung verläuft schleichend und führt zu Durchblutungsstörungen und Blutgerinnseln mit tödlichen Herzinfarkten und Schlaganfällen.
Was ist Polyzythämie?
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Polyzythämie besagt auf Griechisch sinngemäß Bluterkrankung mit extrem vielen Zellen. Die vollständige medizinische Bezeichnung lautet Polycythaemia rubra vera, echte rote Polyzythämie. Vor allem die Erhöhung der Masse roter Blutkörperchen wird auffällig.
Durch Regulationsstörungen im roten Knochenmark proliferieren die myeloischen Stammzellen unkontrolliert und setzen vermehrt rote und weiße Blutkörperchen sowie Thrombozyten frei. Daher zählt die Polyzythämie zu den myeloproliferativen Erkrankungen. Die Folge ist eine Blutfülle, eine Überfüllung des Blutes mit Blutzellen.
Andere Bezeichnungen sind Morbus Vaquez-Osler und im Englischen primary myelopathic polycythemia.
Das Wichtigste auf einen Blick!
- Polyzythämie bezeichnet eine Überproduktion von Erythrozyten, Leukozyten und Thrombozyten im roten Knochenmark.
- Ursache ist eine Mutation des Gens für Januskinase 2.
- Die Symptome sind anfangs unauffällig. Später verfärben sich Haut und Schleimhäute, Leber und Milz schwellen an und die Blutungsneigung steigt.
- Durch die hohe Zellkonzentration ist die Durchblutung gestört und kommt es verstärkt zu Blutgerinnseln.
- Eine Behandlung erfolgt durch Entfernung roter Blutkörperchen, notfalls durch Chemotherapie.
Blutwerte
Diese veränderten Blutwerte können auf eine Polyglobulie hinweisen:
- Erythrozyten zu hoch
- Hämoglobin zu hoch
- Retikulozyten zu hoch
- Basophile Granulozyten erhöht
- Hämatokrit zu hoch
Ursachen
Der Polyzythämie liegt eine Mutation des Gens für die Januskinase 2 (JAK2) zugrunde. Dadurch proliferieren die Stammzellen unabhängig von Erythropoetin, das normalerweise die Erythropoese steuert.
Symptome
Die Erkrankung verläuft chronisch. Anfangs bleibt sie unbemerkt und führt nach und nach zu zunehmenden Beschwerden. Relativ unauffällig sind zunehmende Kopfschmerzen, Müdigkeit, Abgeschlagenheit und Atemnot. Mit der Zeit kommen Sehstörungen, Tinnitus, Schwindel, Verwirrtheitszustände und schmerzende Extremitäten hinzu.
Auffälligstes Symptom ist eine gerötete Haut mit ausgeprägtem Hautjucken oder Taubheitsgefühl, meist begleitet von einer Rötung der Bindehäute am Auge. Das liegt an der Überfüllung mit roten Blutkörperchen, die Haut und Schleimhäute rot verfärben (Plethora). Bei der Betrachtung des Augenhintergrundes (Fundoskopie) durch einen Augenarzt fallen verdickte Venen auf.
Die blutspeichernden Organe, allen voran Leber und Milz, sind regelrecht überfüllt durch das Übermaß an Hämozyten. Die beiden Organe sind deutlich vergrößert (Hepatosplenomegalie). Erhöhte Harnsäurewerte können akute Gichtanfälle auslösen.
Hinzu kommen Magengeschwüre oder Zwölffingerdarmgeschwüre und eine verstärkte Blutungsneigung im Magen-Darm-Trakt. Seltener sind Hirnblutungen. Solche Blutungen sind auf Störungen der Blutgerinnung infolge des Ungleichgewichtes an Hämozyten und Störungen der Thrombozytenfunktion zurückzuführen – auch wenn diese vermehrt sind (Thrombozytose).
Ein auffälliger Nebeneffekt: Kommt es zu Blutungen wie Darm- und Nasenbluten oder durch Verletzungen, bessern sich die Beschwerden. Das liegt daran, dass Blutkörperchen entzogen werden und der Körper das mangelnde Volumen erst einmal mit Flüssigkeit auffüllt.
Folgen
Durch die Erythrozytose sind die roten Blutkörperchen stark vermehrt. Der höhere Anteil von Zellen im Blut steigert dessen Viskosität. Dadurch kommt es zu Durchblutungsstörungen, da die feinen Blutgefäße der Kapillarsystem einen höheren Strömungswiderstand darstellen. Der Blutdruck steigt an (Hypertonie). Im Extremfall ist Herzversagen möglich.
Solche Fließstörungen begünstigen zudem das Platzen von Thrombozyten, was die Blutgerinnung in Gang setzt und zur vermehrten Bildung von Blutgerinnseln führt. Die Folge sind arterielle und venöse Gefäßverschlüsse und Infarkte. Unbehandelt führt die Polyzythämie zu Bein- und Beckenvenenthrombose, Lungen- und Herzinfarkten oder Schlaganfällen.
Selten sind akute Vermehrungen des Bindegewebes im roten Knochenmark. Eine Osteomyelofibrose (Osteomyelosklerose) ist bösartig und verdrängt die Blutbildung in Leber und Milz (extramedulläre Hämatopoese).
Diagnose
Oft wird die Polyzythämie zufällig erkannt, da sie vor allem zu Beginn relativ unauffällig verläuft. Bei den Blutwerten sind Hämatokrit (Hkt), Hämoglobin (Hb) und das durchschnittliche Erythrozytenvolumen (mittleres korpuskuläres Volumen, mean corpuscular volume, MCV) deutlich erhöht – typische Anzeichen einer Erythrozytose (Polyglobulie). Ebenso sind die Werte der Leukozyten und Thrombozyten erhöht (Leukozytose und Thrombozytose).
Weitere Auffälligkeiten im Blutbild sind eine Erhöhung von Harnsäure (Hyperurikämie), LDL und Vitamin B12 sowie eine verlangsamte Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG).
Zur Sicherung der Diagnose nimmt der Arzt eine Knochenmarkpunktion vor. Dabei wird eine Hohlnadel in einen Knochen gestochen, sodass in deren Hohlraum ein Stück Knochenmark entnommen werden kann. Als Entnahmeort verwendet man heutzutage fast ausschließlich den Beckenkamm. Das zylinderförmige Biopsiematerial wird anschließend in Paraffin eingebettet, geschnitten und gefärbt, sodass man nicht nur die Blutzellen, sondern die gesamte Gewebestruktur erkennen kann.
Bei einer Polyzythämie ist das Knochenmark reich an Zellen und Bindegewebsfasern. In vielen Fällen lässt sich genetisch eine JAK2-Mutation nachweisen. Wichtig ist dieser Befund als Abgrenzung (Differenzialdiagnose) zu anderen Erkrankungen, allen voran einer Polyglobulie (Erythrozytose), die in den meisten Fällen durch Sauerstoffmangel hervorgerufen wird und speziell nur die roten Blutkörperchen betrifft.
Behandlung
Die schwerwiegendsten Folgen der Erythrozytose lassen sich durch regelmäßig durchgeführte Aderlässe und anschließende Volumensubstitution mildern. Dadurch werden die Blutzellen verdünnt und die Fließeigenschaften des Blutes verbessert. Wesentlich effektiver als Aderlässe ist eine Blutwäsche (Apherese), mit der überzählige Erythrozyten entfernt und der Hämatokrit gesenkt werden.
Liegt keine erhöhte Blutungsneigung vor, nimmt man zur Vorbeugung von Thrombosen und Embolien eine Blutverdünnung mit Acetylsalicylsäure (ASS) vor.
Lässt sich der Hämatokrit durch Apherese und Aderlass nicht hinreichend senken, ist eine Chemotherapie mit zytostatisch wirksamen Medikamenten wie Hydroxyharnstoff angesagt.
Bei jungen Patienten nimmt man in schweren Fällen eine Knochenmarktransplantation vor.
Ohne Behandlung verstirbt etwa die Hälfte der Patienten innerhalb von drei Jahren nach Diagnosestellung, rund zehn Prozent entwickeln zusätzlich eine akute Leukämie.
Quellen, Links und weiterführende Literatur
- Gerhard Münch, Jacques Reitz: Grundlagen der Krankheitslehre. Hamburg 2005: Nikol Verlagsgesellschaft. ISBN-10: 3933203066.
- McMullin MF: Investigation and Management of Erythrocytosis. Curr Hematol Malig Rep. 2020 Oct;11(5):342-7. doi: 10.1007/s11899-016-0334-1. abgerufen auf pubMed
- Übersicht auf wikipedia.de
- Willibald Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch. 266. Auflage. Berlin 2014: Walter de Gruyter-Verlag. ISBN-10: 3110339978.